Die Gegenwart der Zukunft - Strategische Vorüberlegungen zu Paraflows 08: Utopia

Utopien als Gegenwartsentwürfe. Zur diagnostischen Bedeutung der utopistischen Kulturtechnik

„The future is unwritten“ – und weil sie das ist, verändert sie sich ständig als Horizont von Geschichte, die selbst wiederum aus Veränderung besteht. Als Wunschprojektion in diese Zukunft ist der utopische Entwurf stets Bestandteil jener Gegenwart, in der er sich verfasst. Denn eigentlich erzählen die Utopien der Vergangenheit in erster Linie von ihrer Entstehungszeit: von jenem selbst wiederum geschichtlichen Vorstellungsraum, der jeweils zwischen Ökonomie, Ideologie und Theoriebildung entsteht. Dort ergeben sich Wünsche und Sehnsüchte, Hoffnungen, Erwartungen und Befürchtungen. So spielte z.B. die Geschlechterfrage in den idealen Gesellschaftsentwürfen der historischen Aufklärung meist dieselbe Rolle wie in deren gesellschaftlicher Praxis: nämlich keine. Feministische Utopien (wie ebenso die misogynen Dystopien bürgerlicher Männer) gab es erst seit dem Einsetzen der Emanzipationsbewegung.

Utopien sind insofern nicht unbedingt Zukunftsentwürfe, sondern sie lassen sich als Gegenwartsentwürfe lesen. In der Geschichte des utopischen Vorstellungsvermögens erzählt sich menschliche Bewusstseinsgeschichte: als Abfolge der Zukunftsprojektionen jeweiliger Gegenwarten. – Dass sich die Zukunft von gestern im Heute meist besonders verstaubt ausnimmt, wissen wir bereits von der Wiederausstrahlung uralter Science-Fiction-Serien. Und ebenso, dass sich z.B. „Raumpatrouille Orion“, „Mondbasis Alpha 1“ oder „Flash Gordon“ anhand ihrer futuristischen Entwürfe hinsichtlich Mode, Haartracht, Inneneinrichtung und technologischem Design recht genau datieren lassen. Ebenso kehren die machtpolitischen Konstellationen ihrer jeweiligen Gegenwart stets in mehr oder weniger chiffrierter Form wieder.

Die Gegenwartsgebundenheit von Utopien zeigt sich nicht nur daran, dass – wie Rolf Schwendter gemeint hat – das verstärkte Erscheinen utopischer Denkmodelle immer an ein krisenhaftes Moment geknüpft ist: etwa als Zusammenhang der Massenproduktion an utopischen Entwürfen im 19. Jahrhundert mit den Krisen des sich entfaltenden Kapitalismus. 1)

Und dennoch: Utopien beurlauben sich vorübergehend von der Realität generierenden Macht der Verhältnisse. Sie errichten zu diesem Zweck gedankliche bzw. fiktionale Räume, in denen Szenarien eines Anderswerdens entstehen und erscheinen können. Die Tatsache der Utopie ist damit selbst bereits utopisch, indem die Utopie (egal welchen Inhalts) kein Bestandteil der physischen Welt ist, sondern deren Abbildung unter den psychischen Prämissen des Begehrens. Der Realität bleibt sie dabei aber insofern verhaftet, weil sie in ihr einen Mangel vorfindet, der die utopische Phantasie in Gang bringt. Das „Was wäre, wenn…“, mit der sich das utopische Gedankenspiel eröffnet, ist ein Konjunktiv, der sich von einem gegebenen Sein ableitet.

Solchermaßen erhält sich im Modus der (fiktionalen) Veränderung die Realität, eben als ihr Anlass und als ihr Bedingungsgefüge. Die Utopie entsteht immer schon im Koordinatensystem eines historisch bedingten, also konkreten Vorstellungsvermögens. Und dieses Vorstellungsvermögen setzt sich u. a. zusammen aus zeitgebundenen ideologischen Prämissen und geschichtlichem Erfahrungsmaterial.

In der Utopie zeigt sich, was schon gedacht, aber noch nicht gemacht werden kann, – und beides, das, was gedacht, und das, was gemacht werden kann, sind Aggregatzustände von „Realität“ als spezifische Schnittstelle von psychischer und physischer Welt. Die Utopie ist Gedankenspiel, Traum oder Traumarbeit, Wunschbild, Phantasie, Science Fiction, Vision – aber all diese Formen psychischer und/oder ästhetischer Fiktion entnehmen ihr Material der Wirklichkeit, der sie entspringen. Und die ist wiederum nur eine soziale Übereinkunft, also geschichtlich. Genau wie die Utopie selbst …:

Die Wortgeschichte der Utopie wird gemeinhin mit Thomas Morus Text De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia von 1516 begonnen. Morus schildert dort (im Rahmen eines fiktiven Reiseberichts) die sozio-politische Ordnung der fernen und noch unbekannten Inselwelt „Utopia“, in deren Namen sich das Uneingelöste dieser Ordnung – ihr Noch-nicht – bekundet. Morus ideale Gesellschaftsform wird hier als „Nicht-Ort“ (so die wörtliche Übersetzung von „Utopia“) gekennzeichnet. Zugleich stiftet Morus damit einen Neologismus, der es möglich macht, Orte als Nicht-Orte zu denken.

Als „Nicht-Orte“ bzw. „Unorte“ gelten solche Orte, die aus der Ordnung der Orte – verstanden als die verräumlichte Ordnung einer bestimmten historischen Gegenwart – herausfallen. Es sind Orte, in denen jene Machtbeziehungen, die die Ordnung der Orte hervorbringen, nicht gelten, möglicherweise weil sie als Orte aufgegeben oder schlicht vergessen wurden. Sie sind damit Orte, die sich der Verwertbarkeit entziehen, Brachen oder weiße Flecken in einem als Stadt oder Raum manifestierten Sinn, Leerstellen im diskursiven Gewebe. Als desintegrierte oder unbespielte bzw. unbespielbare Orte sind Nicht-Orte Freiheitsmomente. Ihre Leere ist voll gesogen mit Freiheit, verstanden als die Abwesenheit von diskursiven oder anderen Herrschaftsbeziehungen (und nicht als wertförmiger Schlüsselbegriff der liberalen Ideologie).

Gerade weil Morus sein Utopia als Nicht-Ort ausgewiesen hat, als phantasmatischen Raum und als künstliches Produkt des menschlichen Geistes, der sich vorübergehend von der realitätsmächtigen Verpflichtung auf das, was ist, befreit, konnten sich in ihm ganz unterschiedliche Traditionen zusammen schließen. Im Zusammenschluss bilden sie einen historisch neuen Topos aus, der durch seine Nichtexistenz bestimmt ist.

In die Vorstellung der Inselwelt „Utopia“ ist zum einen die literarisch-philosophische Tradition politischer Idealstaatsentwürfe eingegangen. Sie führt von Platons Politeia über Euripides Panchaia zu Theopompos Meropis (all diese Entwürfe entstehen im Vollzug explizit politischer Gesellschaftsmodelle).

Zum anderen bezog er explizit oder implizit Motive volkstümlicher oder religiöser Erzählungen ein. Hierzu gehört das Schlaraffenland des Märchens; die Wiederkunft des Kaisers Barbarossa der Volksmythen; die utopischen Jenseitswelten der christlichen Metaerzählung, in der irdische Mühsal endlich aufgehoben würde; die Gerechtigkeitsrhetorik der aufständischen Bauern des Mittelalters usw.

Morus synthetisiert diese Momente. Es geht ihm dabei nicht darum, das Bestehende in einer Weise umzudenken, die die Möglichkeit ihrer unmittelbaren Realisierung enthält. Bekanntlich endet seine Schilderung mit der Feststellung, „daß es in der Verfassung der Utopier sehr vieles gibt, was ich in unseren Staaten eingeführt sehen möchte. Freilich ist das mehr Wunsch als Hoffnung.“ 2) 

Die Utopie ist in ihrem Ursprung also keineswegs das Architekturmodell einer besseren Welt, sondern sie ist als Anklageschrift aufzufassen: Dass diese Welt nicht einfach in jene verwandelt werden kann, ist der Skandal, den sie benennt.

Die Utopie formuliert damit eigentlich einen Mangel, an dem sich das Begehren entzünden soll. Und verbleibt damit doch im Horizont des aufklärerischen Mangel-Primats. Denn als Mittel zum Zweck ist die produktive Kraft des Begehrens keineswegs frei geschalten. Sie ist eingebettet in teleologische Bezüge, in Abhängigkeitsverhältnisse und transzendente Sinnkonstruktionen. In ihnen soll Begehren nur diejenige Form sein, in der sich der Mangel darstellt. Damit reduziert der Mangel das Begehren zum Symptom – dies ist der Konvergenzpunkt der modernen Pädagogik mit der Psychoanalyse und dem christlichen Menschenbild. 3) 

Für den Utopismus bedeutet dies: Der Wunsch ist das Differenzkriterium zwischen der gegebenen und einer in der Vorstellung möglichen Gesellschaft. Und dennoch fällt das utopische Begehren nicht einfach mit dem Mangel zusammen, der es hervorgebracht hat. Dies wird gerade deshalb möglich, weil sich das utopische Modell gegen seine einfache sozialtechnokratische Umsetzung sperrt. Es ist eben nicht einfach nur zu verwirklichender Plan und muss sich daher auch nicht im pragmatischen Dispositiv der frühkapitalistischen Ordnung auf seine Tauglichkeit bzw. Untauglichkeit hin befragen lassen. (Wo dies dennoch geschieht, ist es eher der Ausdruck jener Angst bestehender Machtverhältnisse vor dem eigenen Verschwinden).

Die Utopie kann ebenso wenig verifiziert oder falsifiziert werden wie ein Kunstwerk. Als autonomes Artefakt und als Produkt des autonomen menschlichen Geistes folgt sie ästhetischen Regeln, nicht denjenigen praktischer Politik. Vergleichbar einer Sexualphantasie ist sie auf ihre momentane Unumsetzbarkeit angewiesen, auf jenes phantasmatische und phantastische Moment 4), dem in der gültigen Wirklichkeitskonstruktion kein Ort zukommt. Gerade aus diesem Umstand beziehen sowohl Utopie als auch Sexualphantasie die ihnen eigene Intensität.

Und gerade weil sie selbst eben nicht unmittelbar deren Bestandteil ist, kann Utopie „Wirklichkeit“ umso schonungsloser ins Blickfeld rücken. Das Phantastische formuliert insofern – und nicht von ungefähr im Ursprungspunkt der modernen Autonomieästhetik – einen exterritorialen Punkt in dieser „Wirklichkeit“, von dem aus erst der Überblick über diese gewonnen werden kann.

Nicht zuletzt weil ihre Perspektive dergestalt die Draufsicht bzw. die Totale ist, haftet der Utopie etwas Totalitäres oder Totalisierendes an – was ihr AntiutopistInnen ja auch oft zum Vorwurf gemacht haben. Aber erst diese Totale ermöglicht die radikale Kritik gesellschaftlicher „Wirklichkeit“ als solche, die selbst wiederum eine Totalität darstellt. Und nur eine dergestalt radikale Kritik weist über den punktuellen Reformismus hinaus, der sich nach den Maßgaben des Realismus mit „Wirklichkeit“ bereits unauflöslich eingelassen hat und nur ein Mehr-Desselben bleibt.

Zu Morus Zeit war die Weltkarte (von der man/frau eben erst gelernt hatte, dass sie nur die zweidimensionale Repräsentation eines dreidimensionalen Körpers darstellt) noch selbst von Unorten durchsetzt: von fernen, unerschlossenen und unentdeckten Gefilden, die der Vorstellung vom „Anderen“ Nahrung gaben. In deren kategoriale Unbestimmtheit ließ sich das Begehren eintragen: Eldorado – geheimnisumwittertes Goldland; Utopia – fernes Gesellschaftsparadies usw.

Mit der fortschreitenden Kartografierung der Erde löste sich das Begehren vom ausgekundschafteten Raum und band sich an eine neu entdeckte Kategorie der menschlichen Existenzweise: die Zeitdimension. Denn: die expansive Weise, in der der abendländische Mensch auf dem Globus fortschritt, ließ sich ja auf die Zeitachse übertragen. Die Zukunft war demzufolge nicht länger Kontingenzmoment oder Erfüllungsort eines vorgebahnten Schicksals, sondern sie wurde das Unbekannte: ein zu eroberndes Territorium.

Erst im geschichtsphilosophischen Diskurs der Aufklärung verbindet sich das geschichtsmächtige Moment menschlichen Daseins mit dem Versprechen auf Zukunft. Beide werden im Begriff des „Fortschritts“ amalgamiert – und am Horizont erscheint bereits Hegels Reformulierung des hellenischen Weltgeistes. Fortschritt – für Oscar Wilde „the realisation of Utopias" 5) – meint künftighin jenen Weg, der in dieses unwirtliche und abweisende Territorium gebahnt werden muss.

In der noch ausstehenden Geschichte konnte noch einmal jenes Unbekannte verankert werden, das in Morus Utopie noch im Nebel der Entfernung zu haben war. Die Entfernung wurde damit gewissermaßen verzeitlicht, und erst in der späten „Zukunft“ des beginnenden 20. Jahrhunderts eröffnete sich in der Zeit ein neuer Raum als schier unendlicher Möglichkeitsraum, der dem utopischen Vorstellungsvermögen als Nährboden dienen konnte: der Weltraum mit seiner Unzahl an vorstellbaren Zivilisationen. Das seither etablierte Genre der Science Fiction hat zahlreiche Zivilisationsutopien in den „unendlichen Weiten“ (wie es programmatisch im Intro der Folgen der „Star Trek“-Saga heißt) dieses Raums angesiedelt.

Die Aufklärung stiftete mit dem Fortschritt eine neue Denkfigur: die Eroberung der eigenen Zukunft als menschheitsgeschichtliches Projekt. Die Zukunft des Menschen wurde so zum säkularisierten Jenseitsbereich, der den Klauen des Klerus und seiner esoterischen Wurmfortsätze entrissen worden war. Was die eigene Gegenwart noch verunmöglichte, konnte zumindest in der Zukunft erscheinen.

Dass sich die Zukunft als verschieden von der Gegenwart und mithin als deren genaues Gegenteil denken ließ, war wiederum ein Abfallprodukt der jüngeren Geschichte: schließlich erlebten die Menschen der Frühaufklärung das Umwälzende der menschlichen Erfindungsgabe bereits in einer Geschwindigkeit, aus der heraus sich die beinahe zwanghafte Vorstellung ergab, die Zukunft müsse ein Ensemble gewaltiger und tief greifender Veränderungen sein. Es war gerade diese Vorstellung von der Unvorstellbarkeit der Zukunft, die das frühaufklärerische Vorstellungsvermögen auf Trab hielt. Nur wenige Generationen zuvor war die Existenz der meisten Menschen noch derart statisch verlaufen, dass sie es sich nicht einmal hätten träumen lassen, die eigenen Kinder könnten in einer Welt leben, die wesentlich anderen Gesetzmäßigkeiten folgt als die eigene.

Indem die Aufklärung die Zukunft als Projektionsfläche und Fluchtpunkt aus der noch längst nicht optimierten Gegenwart erfand, erfand sie zugleich die Zeitdimension des Menschen als zusammenhängend, als etwas in sich Sinnhaftes. Erst von der Zukunft aus ließ sich Vergangenheit verstehen – im Lichte von Imperativen, die sich auf jene Zukunft richteten. Das Mittelalter konnte z.B. retrospektiv als Ort existenzieller Verdunkelung imaginiert werden, als lichtlose Epoche, die eben noch nicht erhellt war vom Flutlicht der Vernunft und ihrer kategorischen Imperative.

Im Spiegel der Zukunft erschien also – als ideeller Rückkopplungseffekt und in Form diskursiv erzeugter Rückblenden – die Vergangenheit, von der man/frau sich befreien wollte, in der man/frau aber auch die menschheitsgeschichtlichen Spuren in die Zukunft sicherstellte. Die Utopie wurde so das wichtigste Vergegenwärtigungsmoment der eigenen Geschichte.

Ebenso zeigte sich die Gegenwart in der Zukunft: als ihr Noch-Nicht, als Zeit, in der das Versprechen einer besseren, gerechteren und geretteten (denn die aufgeklärte Gegenwart schrammte ja noch an einem Abgrund aus Religion und Unvernunft entlang) Welt schon gegeben, aber noch nicht eingelöst werden konnte.

Die Bedeutung der Utopie für die in ihr entworfene Gegenwart besteht, wie gesagt, nicht so sehr darin, konkreter Plan für eine konkrete Zukunft zu sein – auch wenn sich zahlreiche Utopien explizit im Bereich der Zukunftsplanung verorten, indem sie die komplexen Systeme zukünftiger Gesellschaften entwerfen und sogar Lösungsvorschläge für angenommene und erwartete Probleme mitliefern.

Aber indem eine Zukunft denkbar wurde, die gestaltet war (im Sinne zu sich selbst gekommener Vernunft), wurden Probleme der Gegenwart als Effekte ihrer konkreten Gestaltung verstehbar: Sie waren aus der Struktur der gegenwärtigen Ordnung abzuleiten und ihre Behebung bedurfte eines Umbaus der gesellschaftlichen Matrix.

Hieraus resultieren die unterschiedlichen Annahmen einer Veränderbarkeit von Geschichte, wie sie sich sowohl in die politischen Gestaltungsprogramme als auch in die Idee der Revolution (als die radikalste Form solcher Programme) übersetzten.

Der historisch neue Gedanke der Revolution, der erstmals im Zusammenhang mit der Durchsetzungsgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft erschien und später die Grundlage kommunistischer und anarchistischer Veränderungskonzepte bildete, unterschied sich wesentlich von den – gerne als Vorlaufsform vereinnahmten – Rebellion der Bauernkriege. Den aufständischen Bauern und Bäuerinnen war es meist nur um die Wiedereinsetzung von Gerechtigkeit im Sinne eines „alten Rechts“ gegangen, um einen Regress in eine bessere Vergangenheit, über die FürstInnenwillkür sich hinweggesetzt hatte. Die Revolution versprach hingegen, die Welt völlig neu zu errichten.

Als Versprechen eines ungekannten Neuen in zu erringender Zukunft fügt sie sich allerdings gut, vielleicht zu gut, ins bürgerliche Geschichtskonzept.

Weil aber das Utopische, wie oben beschrieben, eher ein nebulöser, tagträumerischer, ja, pietistischer und zutiefst passiver Wunschtraumraum war, der keine konkreten, geschichtlich spezifischen Handlungsanweisungen generierte, grenzten sich die sozialistischen TheoretikerInnen recht bald vom „schafsköpfigen, sentimentalen, utopischen Sozialismus“ 6) ab. Dem hielten Karl Marx und Friedrich Engels 7) die analytische Methode entgegen, aus der, wie sie glaubten, einzig das objektive Potential erwachsen könne, die hegemoniale politische Ökonomie zu verändern. Sie betonen darin das Vorgängige der Ökonomie – und implizit das Gegenwartsbezogene der Utopie, die gerade in ihrer frei schwebenden Gegenwartslosigkeit nicht über diese hinaus kann.


Die Kunst als Nichtort

Kunst hatte seit jeher großen Anteil am utopischen Diskurs über die Gegenwart, was sich nicht zuletzt auch darin zeigt, dass der längst in die Alltagssprache migrierte Begriff der „Utopie“ einer literarisch-philosophischen Phantasie – eben Morus fiktiver Reiseschilderung – entnommen wurde, die wiederum ein eigenes narratives Genre begründet hat.

Das hat v. a. damit zu tun, dass Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft einen Raum bezeichnet, der dem „Anderen“ zugewiesen ist. Sie ist als ein Ort konzipiert, der gesellschaftlicher Normalität gewissermaßen gegenüberliegt und von dem aus sich diese Normalität anders, nämlich vermeintlich unverstrickt, betrachten lässt.

Die viel beschworene Autonomie der Kunst bedeutet ja nichts anderes, als dass sie weitgehend aus dem Bereich lebenspraktischer Alltagsvollzüge ausgegliedert wurde. Sie soll eine Art „Sonderwirtschaftszone“ sein und über eine eigene Ökonomie verfügen. Ebenso sollen die kulturellen Darstellungsformen der politischen Ökonomie – Moral, Phantasie, Werthaltungen, das Urteilsvermögen, der Bereich des Sinnlichen usw. – in ihr anders begründet sein. Das Schöne-Gute-Wahre als Eigenmoralität des ästhetischen Raumes ist als bewusster Bruch mit bzw. als Kontrast zu der Moralität und Logik der kapitalistischen Ökonomie gedacht.

Das bedeutet natürlich nicht, dass in diesem Kunstraum nicht dieselbe politische Ökonomie angetroffen werden kann, von der aus alle gesellschaftlichen Teilsysteme organisiert und strukturiert werden. Wohl aber, dass ihre Verstrickung in diese Ökonomie ein Problem darstellt, gegen das bereits viel diskursiver Abwehrzauber im Rahmen von Kunsttheoriebildung sowie Kunstkritik und -betrachtung aber auch öffentlicher Meinung ins Feld geführt wurde. Dies geschah um der Illusion willen, der aufgeklärte Mensch würde nicht mit seinen sozioökonomischen Ermöglichungsbedingungen zusammenfallen, sondern könnte eben jene Humanität erlangen, die das ökonomisch-politisch konfigurierte Alltagshandeln in einem fort in Abrede stellt. Und weil das in der realen Welt nicht möglich ist, bedarf es zumindest eines irrealen bzw. symbolischen Ortes für diese Differenz zwischen Anspruch und „Wirklichkeit“: eben der Kunst.

Die Funktion der bürgerlichen Kunst ist es also, das Andere zu denken und in einem isolierten Raum, dem Kunstraum, zur Entfaltung zu bringen. Sie hat an dieser Stelle das Problem, dass sie dieses Andere nur um den Preis ihrer gesellschaftspolitischen Folgenlosigkeit zur Erscheinung bringen darf. Zwar soll es in der Kunst erscheinen dürfen, von hier aus aber keineswegs auf die gesellschaftliche Ordnung außerhalb des in sich selbst kreisenden Kunstsystems durch- bzw. zurückschlagen. Deswegen müssen die Grenzen des Kunstsystems sehr gut bewacht werden, eine Aufgabe, die der Kunstdiskurs zu leisten hat.

In ihrer Isolation vom gesellschaftlichen Umfeld ist die Kunst ein Nichtort. Sie ist es ideologisch als die Fiktion eines Raumes, wo die grundlegenden Machtbeziehungen des Spätkapitalismus nicht gelten sollen, auch wenn sie gegenwärtig in Form viraler Diskurse – z.B. in der Gestalt von ästhetischem Eventmanagement – wieder verstärkt einströmen und das Kunstfeld gänzlich zu rekonfigurieren drohen. Und sie ist es faktisch als weitgehend von gesellschaftlicher Wirklichkeit und Wirkmächtigkeit entkoppelte Sphäre, die umso mehr in Wirkungslosigkeit zu versinken droht, je mehr sie sich als kritisches Korrektiv inszeniert. Wo Kunst als ein solcher Nichtort aber weiterhin über Gesellschaft spricht, ist sie per se utopisch, weil aller Inhalt in der für die Kunst konstitutiven Entkopplung vom gesellschaftlich Realen hypothetisch und phantastisch wird.

Das Utopische der Kunst läge somit darin, dass sie einen Weltbezug enthält und formiert, der zwar fiktional (nämlich auf das künstliche Gebilde des so genannten Kunstraums begrenzt) ist, aber zugleich das Begehren auf ein anderes Leben enthält. Sie ist derjenige zukunftsförmige Ort in der Gegenwart, an den sich utopisches Denken unmittelbar heften kann und von wo aus sich anders in die Zukunft denken lässt. In ihr ist – wenn auch nur als ideologischer Trick – die schlechte Gegenwart, verstanden als das alles durchdringende Diktat der gesellschaftlichen Ökonomie, bereits überwunden.

Kunst ist der Ort vergleichsweise ungefilterter Wunschproduktion, was auch heißt, dass sich in ihr artikulierte Zukunftsentwürfe – die hier oft in ihr Gegenteil: die so genannten „Dystopien“ 8) umschlagen – nicht am kapitalistischen Maßstab der Verwertbarkeit messen lassen müssen. Anders gesagt: Kunst muss nicht gefallen, um zu gefallen. Schließlich ist bereits die Tatsache der Kunst eine verwertete, d.h. Kunst ist an sich immer schon verwertet (in Form ihrer ideologischen Funktion), weshalb sie dann auch das materiell Wertlose (Müll, Fettecken) in ihre Wertschöpfungsketten integrieren kann. Als ideeller Wert (d.h. als wichtiger Bestandteil bürgerlichen Selbstverständnisses) hat Kunst bereits einen materiellen (als Ware), und Kraft ihrer ideellen Werthaftigkeit muss es ihr nicht mehr auf den in ihren Bestandteilen selbst akkumulierten Materialwert ankommen. Der hat sich mit der Durchsetzung der ästhetischen Moderne ans Kunsthandwerk durchgereicht.

Dieses ist ihre Ausgangslage, hinter die sie nicht einmal symbolisch zurückgehen kann. Kunst kann nicht so tun, als wäre sie nicht gerade in ihrer spezifischen - ja: justitiablen - Freiheit entschieden unfrei, im Sinne eines Gesellschaftsanhängsels. Ihre Freiheit ist die Freiheit des inneren Exils. Sie wäre andernfalls Kitsch (wie in: „Kunsthandwerk“). Aber gerade diese Unfreiheit ist dennoch als Freiheitsmoment aufzufassen, weil sie jene entscheidende Sekundarisierung ermöglicht: Was in ihr gesagt und was in ihr getan wird, muss zwangsläufig ein Kommentar sein zu jener ersten „Wirklichkeit“. Die Möglichkeit eines solchen Kommentars liegt gerade in ihrer Distanz, ihrer Nichtteilhabe, sprich: ihrem Nichtort-Sein begründet. Das oberste Gesetz der bürgerlichen Kunst lautet daher: Realität ist woanders – woraus sich auch das zwischen seliger Dumpfheit und heilloser Panik oszillierende Moment der meisten realistischen Kunstverfahren ergibt.

Die Autonomieform der Kunst besteht also gerade darin, selbst nicht absolut autonom sein zu können. Ihre Autonomie ist eine relative, abhängige, eine Vermittlungsform.

Zu dieser Vermittlungsform gehört, dass das in ihr bearbeitete Material immer etwas gesellschaftlich Vorgefundenes ist. Woraus sich ergibt, Kunst als permanente Auslegungsarbeit an der Gesellschaft zu verstehen, eben weil sie ihr Material als Bestandteil des Gesellschaftszusammenhangs, der sich in ihm ausdrückt, auffasst.


Zur Position der digitalen Kultur zwischen Zukunft und Gegenwart

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich die Frage, wie im Rahmen eines Kunstfestivals im Bereich „Digitale Kunst und Kulturen“ das Thema „Utopie“ verhandelt werden kann. Sicherlich nicht, indem digitale Kunst – in Fehldeutung ihrer Autonomieform – einfach nur selbst utopische Entwürfe formuliert, bessere Zukünfte entwirft oder schlicht bebildert und veranschaulicht bzw. auf einer sozialplastischen Ebene ins Werk zu setzen versucht.

Digitaler- und Medienkunst wäre, wo sie sich einem derartigen Zukunftspathos oder der futuristischen Naivität von techno-social engeneering hingibt, der Vorwurf zu machen, dass sie technokapitalistische Diskurse auf der ästhetischen Ebene bruchlos wiederholt.

Zwar mag digitale Kunst zurzeit diejenige Form sein, in der sich die Kunst mit dem Entwicklungsgang von Gesellschaft nicht nur metaphorisch identisch weiß. Denn Digitalität als Zukunftserwartung überwölbt gegenwärtig so gut wie alle gesellschaftlichen Bereiche. Und die Annahme, dass es sich bei den digitalen Kulturtechniken der unterschiedlichen Gesellschaftsfelder um Schüsselkulturtechniken der unmittelbaren Zukunft handeln wird, mag aktuell von unerschütterlicher Plausibilität sein.

Diese Zukunftshöhe kann digitale Kunst zu Futurismus verleiten, verstanden als dasjenige kunstästhetische Programm, das die historischen Widersprüche in großformatigen Zukunftsphantasien untergehen lässt. – Die futuristischen Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts brachten noch einen solchen historischen Widerspruch zur Artikulation: nämlich den Bruch mit der humanistischen Kunsttradition. In der Perspektive der Gegenwart entspräche die technoeuphorische Haltung des frühen Futurismus jedoch allenfalls noch der einsilbigen Vetternwirtschaft von Kunst und Ökonomie, die hinter selbst noch die begrenzten und verkapselten Möglichkeiten der Kunst zurückfällt - und Reklame wird.

Die Erwartung von und aus digitaler Kunst etwas über zukünftige gesellschaftliche Strukturen und Handlungsweisen zu erfahren, speist sich aus ihrer vorgeblichen Zukunftshöhe. Die Versuchung mag also groß sein, das unterstellte prognostische Potential, die Zukunftsfeldforschung auszuspielen im Sinne ihrer institutionellen Verankerung.

Zur Krise der digitalen Kultur gehört, dass sie sich der medientheologischen 9)Tendenz der bürgerlichen Gesellschaft folgend als Ensemble medienspezifischer Probleme, Interventionen und Innovationen artikuliert und so in genau derselben Weise das Problem der Medien nicht in den Griff bekommt, wie es ein Großteil der so genannten „Medienkritik“ oder der bestehenden Medientheorie 10) nicht vermag.

Medien – als deren aktuell avanciertester kunstästhetischer Stand die digitale Kunst sich geltend machen kann – generieren dabei sowohl utopische als auch dystopische Zukunftsszenarien (in denen entweder angenommen wird, dass Medien ihre gegenwärtige Funktion als Realitätsmaschinen beibehalten werden – oder nicht beibehalten werden). Und sie stellen die unhintergehbaren Darstellungsmittel des Utopischen bereit. Aus dieser Konstellation ergibt sich eine prekäre Verschränkung von Medialität und Utopizität. Sie mündet mithin darin, Medien als einzige Utopie bzw. als einziges utopisches Moment zu begreifen, das sich der politischen Ökonomie entgegenstellen und auf diese im Auftrag latenter Hoffnungen und Wünsche einwirken könne. Zugleich gehen Medien jedoch aus eben dieser politischen Ökonomie hervor und entsprechen ihr bis ins Detail. Wollten sie diese überwinden, müssten sie sich also zunächst einmal selbst überwinden.

Wo Medien ihre eigene Medialität allerdings einbekennen (und sich nicht auf die Abbildfunktion des klassischen Kunstwerks – das seine eigene Medialität ja vergessen will – verlassen), geraten sie in eine Position, die auf das Andere zumindest verweist. Und zwar im Sinne des beschriebenen utopischen Gehalts von Kunstwerken.

Die bürgerlichen Informationsmedien werden anzunehmender Weise ihrem Erfolgsrezept auch weiterhin folgen, das darin besteht, die eigene Medialität in der in ihr erzeugten Realität verschwinden zu lassen – also gesellschaftliche „Wahrheit“ zu produzieren. Dem gegenüber kann die Medienkunst in ihrer jeweiligen geschichtlichen Form (als Ästhetisierung des gesellschaftlich dominanten Medientyps) darauf verweisen, dass Medialität eine Abfolge spezifischer Funktionsbeziehungen ist.

Der Bezug auf Technologie als neuer Möglichkeitshorizont hat einen Großteil der historischen Utopien geprägt, z.B. Francis Bacons Neu Atlantis. Bacons Text ist ein früher (allerdings Fragment gebliebener) Gesellschaftsentwurf auf der Basis des schon erahnbaren technologischen Veränderungspotentials. Bacon gibt hier der bürgerlichen Leit-Utopie eine plastische Form. Jener Utopie, die eher die Form eines Zukunftsgerüchts, weniger die eines konkreten Planes oder Entwurfes hat. Sie erzählt von einer freien Gesellschaft auf der Basis umfassender technischer Rationalität. Nach Überwindung all derjenigen sozialen Probleme, die sich jeweils aktuell aus der Entfaltung dieser Rationalität ergeben, solle sie sich als Ende von Geschichte und als eine Art Kommunismus unter Ausschaltung der Klassenfrage wie von selbst einstellen – irgendwann und irgendwo.

Kunst kann, indem sie diese gezielt vage Perspektive einer technologischen Erlösung der bürgerlichen Gesellschaft von sich selbst (bzw. ihr Scheitern in Form dystopischer Technozukünfte) in die Anschaulichkeit zurückholt, ihre als unbestimmte Zukunftsvorstellung hinausgezögerte Einlösung vor Augen führen (bzw. deren kapitalistische Unmöglichkeit).

Es geht also für die digitale Kunst nicht darum, ein Utopieverbot auszusprechen, wie dies Marx und Engels für den Bereich politischer Phantasterei und Projektmacherei getan haben. Es geht vielmehr darum, in die entworfene Utopie zugleich das Wissen um ihre Unmachbarkeit einzufügen. So allein kann der Nichtort eben vor jener Konkretion bewahrt werden, die ihn an den bürgerlichen Verblendungszusammenhang von Medien und Technologie ausliefert.

Allein im Unbestimmten, Übertriebenen, Persiflierten, Unrealistischen, Grundlosen oder gnadenlos Phantastischen ist eine solche Differenz zwischen sozial-ökonomischem Zukunftspathos und seiner ästhetischen Verarbeitung (als Material) noch möglich.

Denn nur insofern kann es der Kunst gelingen, das Zukunftspathos als Moment einer konkreten „Wirklichkeit“ auszuweisen. Und zwar indem sie es in diejenigen utopischen Zusammenhänge bringt, von denen es vorgeblich handelt.

Der Science Fiction gelingt dies bisweilen und sie stellt damit die Frage, was uns Zukunftsvisionen über unsere Gegenwart erzählen, wenn wir diese Gegenwart aus ihrer Einbettung in sich selbst herauslösen und in den Rahmen eines – nennen wir es: „Zukunftspolaroids“ stellen.

In derlei Strategien kann sich Medienkunst, auch da, wo sie von Zukunft träumt, als Unterschied zu bürgerlicher Reform-Utopistik positionieren, die sich in alternativen Zukunftswunschbildern verliert, es aber weder vermag, sich selbst noch die von ihr erzeugten Bilder als Effekte gesellschaftlicher Machtverteilung zu verstehen.

Dies ist ja der tote Winkel der meisten Realutopien: das Nichteinbedenken der eigenen klassenspezifischen Existenzweise ihrer UrheberInnen.

Die ästhetische Utopie müsste sich in Absetzung hiervon als Verarbeitungsform und vielleicht sogar als manipulative Maßnahme (im Sinne der Kommunikationsguerilla) gegen jene Wunschökonomie verstehen, die letztlich eine gesellschaftliche Produktivkraft im Sinne des kapitalistischen Produktivitätsparadigmas darstellt. Mittels ihrer spezifischen gesellschaftlichen Position als teilnehmende Beobachterin kann Kunst die zirkulierenden gesellschaftlichen Wünsche und Projektionen, ja den gesamten Bereich der Zukunftsvorstellungen, als Effekte von Klassen-, Rassen- und Geschlechterpositionen lesbar machen. Dazu bedarf die Kunst eines Distanzierungsmomentes, indem sie sich gerade nicht von der jeweils in den utopischen Entwürfen produzierten Euphorie kassieren lässt.


Individuelle Zukunftsinseln: Von der spätkapitalistischen Bonsaifizierung der Utopie

Die gegenwärtige Gesellschaftslage wird vielerorts als umfassende Krise interpretiert, was wiederum seinen Niederschlag im forcierten Utopismus findet – der Ruf nach „unkonventionellen Lösungen“ im Angesicht einer Strukturkrise des Konventionellen (in ökonomischer, politischer, ja kulturindustrieller Hinsicht) erzählt hiervon.

Zugleich wird der Spätkapitalismus jedoch als weit reichender Verlust von Utopie erlebt. Zwar ist die spätkapitalistische Wirklichkeitsoberfläche durchsetzt von einer Vielfalt an utopischen Verheißungen und Sinnangeboten, die sich in den unterschiedlichen Formen der Populärkultur aussprechen (von der Werbung über Popsongs bis zum politischen Diskurs). Diese Utopien verstehen sich aber nicht mehr als gesellschaftliche Entwürfe, als in die Zukunft verlegte Hoffnung darauf, dass das, was ist, auch anders sein könnte – in einer gesamtgesellschaftlichen Dimension. Es sind vielmehr individuelle Hoffnungshäppchen, Utopie-Miniaturen, Bonsaifizierungen der großen Menschheitsträume – und eine grelle Parodie von Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“ 11)

Es geht hier eben nicht mehr um Szenarien etwa einer anderen Güterverteilung, sondern um die persönliche Vorteilnahme im Chaos aufeinander prallender pursuits of happiness. Utopie als fiktionale Gesellschaftsveränderung wurde somit pulverisiert zu spezifischen Zukunftsangeboten, die sich im Kategorienrahmen von Angebot und Nachfrage konstituieren.

Hier taucht der Begriff der „Utopie“ (jenseits des Wirtschaftsjargons) allenfalls noch als individuelles Regressionsmoment auf, wie es sich in Buchtiteln wie Heimat als Utopie 12) ausspricht.

Auf einer metaphorischen Ebene wird damit die Utopie aus der Zukunft (wo sie in der Regel den gesamten Zivilisationsraum meint) zurückgebracht auf jene Inseln, auf denen sich Platons und Morus Utopien vorfanden. Die individualisierten Utopien von Sicherheit und privater Altersvorsorge, von beruflichem Erfolg und häuslichem Glück, von nationalstaatlicher Wirtschaftsmacht und undurchlässigen Wohlstandsgrenzen meinen nur noch individuelle Zukunftsinseln in jener schweren See, die kapitalistische Ökonomie zu sein begehrt. Es sind sichere Privathäfen im Ungewissen, die in Politik und Kultur die Stelle der utopischen Hypothese eingenommen haben.

Auch die historischen Utopien waren, wie Rolf Schwendter bemerkt hat, an Privilegien geknüpft: „In den vergangenen Blütezeiten der Utopienproduktion, etwa im 18. und 19. Jahrhundert, war es nur Intellektuellen und einigen wenigen Autodidakten, wie dem Schneidergesellen Wilhelm Weitling, möglich, ihre Wunschbilder schriftlich auszuarbeiten und dadurch weiterzuvermitteln 13). Ihr Kennzeichen war es aber, dass sie – zumindest in der Intention ihrer VerfasserInnen – ihren privilegierten Entstehungsraum überwinden wollten. Sie waren imaginierte Menschheitsprojekte – und als solche schrieben sie sich in ihre Gegenwart ein: als Bewusstsein eines über den individuellen Anspruchsrahmen hinausgehenden Veränderungswunsches.


Nichtorte zwischen Utopie und Dystopie: die Wiener Flaktürme

Der Gefechtsturm Arenbergpark wurde von Dezember 1942 bis Oktober 1943 erbaut, um im Verbund mit den anderen Flaktürmen Wiens „eine effektive Stadtverteidigung zu ermöglichen 14). Zu diesem Zeitpunkt hatten die Alliierten längst die Lufthoheit über die NS-Streitkräfte errungen, und die Städte des deutsch-österreichischen Nationalsozialismus waren zu Zielscheiben für Luftangriffe geworden, in denen die nazistische Barbarei wieder zu ihren AdressatInnen zurückkehrte.

Der Nationalsozialismus war – was man/frau über der Brutalität seiner Vernichtungsmaschinerie beinahe vergessen könnte – eine Patchworkideologie, ein fast schon postmoderner Synkretismus. Er bediente sich aus einem reichhaltigen Fundus an Ideologien. Vom Vulgärmarxismus übernahm er den kruden Antikapitalismus (den er noch mal vergröberte), aus der deutschen Ideologie die Angst vor dem Fremden, aus christlichen und konservativen Traditionen und deutscher Befindlichkeit inkorporierte er den eliminatorischen Antisemitismus, von der Aufklärung entlieh er sich eine bestimmte Form der Rationalität, seine ästhetischen Bezüge stammen zum Teil aus einer später strategisch dem Volkszorn preisgegebenen Moderne usw.

Sein utopisches Selbstverständnis unterscheidet ihn als Sonderform von anderen zeitgleichen Faschismen, die in der Regel reine Autokratien ohne Menschheitserlösungsmandat waren. Die nazistische Eschatologie war ein Versatzstück aus der parareligiösen bürgerlichen Ideengeschichte, aber sie drängte mit aller Gewalt zur Umsetzung, indem sie die für Utopien konstitutive Trennlinie zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit durchstieß. Vielleicht nimmt sich der Nationalsozialismus ja deshalb manchmal wie eine versehentlich in geschichtliche Wirklichkeit verirrte literarische Phantasie aus.

Die zwangsweise Errichtung von urbanen Nichtorten – wie sie die im Wiener Stadtgebiet verteilten Flaktürme repräsentieren – durch Kriegsgefangene und ZwangsarbeiterInnen markiert zugleich den Umschlagspunkt der nazistischen Utopie expansiver militärischer Gewalt und rassischer Säuberung in seine dystopische Kehrseite: die Heimatfront und der ins eigene Hoheitsgebiet zurückschnappende Luftkrieg. Anders als in Berlin, wo Hitlers Leibarchitekt, der nationalsozialistische Utopist Albert Speer, selbst die Planung der Luftabwehrtürme übernommen hatte und sich darum bemühte, sie in den monumentalen Kitsch der NS-Architektur ästhetisch zu integrieren, sind sie eine reine Verteidigungsmaßnahme ohne Rücksicht auf ihre bauliche Integrationsfähigkeit und ohne Rückbindung an spezifische Architekturphantasien, kurzerhand dort hingestellt, wo eben noch Platz war.

Sie sind heute Nichtorte, in deren Massivität sich das anderweitig in der österreichischen Gesellschaft weitgehend marginalisierte Einbekenntnis der aktiven Beteiligung sowohl am nazistischen Utopismus wie an seinem dystopischen Umschlag manifestiert. Sie stören durch ihre schiere – in den meisten Fällen zurzeit funktionslose – Anwesenheit den Vollzug jener Verdrängungsarbeit, in der sich die post-nazistische österreichische Nation stiftete.

Damit reflektieren sie zugleich das Thema des dritten „Paraflows“-Festivals, das sich im Gefechtsturm Arenbergpark bewusst am historischen Kippmoment von Utopie in Dystopie positioniert. Der im Veranstaltungsort ausgesprochene Bezug auf das Jahr 1938 – Österreichs Anschluss an den oder auch: Aufschluss zum Nationalsozialismus – verweist auch auf die Reihe der so genannten „Achter-Jahre“, die utopische Momente der österreichischen Geschichte bereitstellen, beginnend mit der antimonarchistisch-bürgerlichen Revolution von 1848, über den Zerfall des alten Großreichs um 1918, den besagten „Wiederanschluss“ (in NS-Diktion) an ein imaginäres Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 1938, bis zur so genannten „Uniferkelei“ im Jahre 1968, die als Begründungsakt des in einem psychoanalytischen Sinne utopischen Wiener Aktionismus gilt, der wiederum die österreichische Kunst- und Kulturlandschaft nachhaltig verändert hat. All diese Daten fließen zu ihrem jeweiligen Jahrestag 2008 noch immer in der einen oder anderen Weise in den utopistischen Diskurs hierzulande ein.


1) „Als allgemeiner Grundsatz kann dabei festgehalten werden, daß, je mehr die Produktion von Utopien sich häuft, desto stärker wird die ökonomische Strukturkrise fühlbar.“ (Rolf Schwendter: Utopie. Überlegungen zu einem zeitlosen Begriff. Hamburg 1994.
Erste Auflage. S. 11.)

2) Thomas Morus: Utopia. Übersetzt von Gerhard Ritter. Mit einer Einleitung von Herman Oncken. Darmstadt 1979. S. 114.

3) Zur theoretischen Befreiung des Begehrens vom Mangel vgl. das Kapitel „28. November 1947 – Wie schafft man sich einen organlosen Körper?“ in: Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie. Aus dem Französischen übersetzt von Gabriele Ricke und Ronald Vouillé. Berlin 1992. S. 205-227.

4) Bei Charles Fourier findet sich z.B. neben den Ausführungen zur post-arbeitsteiligen, solidarischen Gesellschaft auch der Vorschlag, die Meere in Zitronenlimonade und essbare Gallerte zu verwandeln, vgl. Schwendter: Utopie S. 10.

5) Oscar Wilde: The Soul Of Men. In: Ian Small (Hg.): The Complete Works Of Oscar Wilde. Volume 4: Criticism. Ed. By Josephine M. Guy. Oxford 2007. S. 229-268. S. 247.

6) Brief an P. W. Annenkow vom 28. Dezember 1846. Zitiert nach: Ulrich Dierse: Utopie. In: Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hg): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Völlig neubearbeitete Ausgabe des ›Wörterbuchs der philosophischen Begriffe‹ von Rudolf Eisler. Band 11: U-V. Darmstadt 2001. AS. 510-526. S. 518.

7) Vgl. hierzu: Friedrich Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Band 19. Berlin 1973. 4. Auflage, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage. S. 189-201.

8) Die Dystopie ist eine negative Utopie, die nicht immer eindeutig von der Utopie abzugrenzen ist. Sie liest vom gegenwärtigen Entwicklungsstand eine negative, katastrophale Zukunft ab, wie dies exemplarisch George Orwell in 1984 getan hat, indem er bestimmte Elemente der totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts: Faschismus, Nazismus, Sozialismus und Kapitalismus in einem dystopischen Szenario neu zusammengesetzt hat.

9) Zum Begriff der „Medientheologie“, vgl. umfassend: Frank Apunkt Schneider: The medium is the Messiah. Über die implizite Ideologie des Medienaktivismus, seine aktuellen Chancen und generelle Verstricktheit. In: Heinrich Geiselberger (Hg.): Und jetzt? Politik, Protest und Propaganda. Frankfurt/Main 2007. S. 295-311.

10) Medientheorie ist der in der Regel an zu großen, zu kleinen oder ideologiekritisch nicht durchgesehenen Fragestellungen misslingende Versuch, Gesellschaftsdiagnose aus der und auf der Ebene ihrer Vermitteltheit zu betreiben; im Wissen, dass das, was ist, erst entsteht, indem man/frau danach fragt. Dabei verwandeln sich Probleme der politischen Ökonomie in Darstellungsprobleme, die im chaotischen und slapstick-haftenVollzug ihrer aussichtslosen Bewältigung die Probleme selbst zum Verschwinden bringen. (Vgl. dazu ebd.)

11) Bloch hatte in Das Prinzip Hoffnung zwar das utopische Denken in der individuellen Alltagserfahrung verankert, in den Tagträumen z.B. als vorübergehende Realitätsabtrünnigkeit. Dieses experimentelle Potential des menschlichen Geistes wurde von ihm aber in den Rahmen eines Menschheitsprojekts gestellt, und zwar dergestalt, dass sich der private Tag- oder Wunschtraum durchaus zu vergesellschaften vermag.

12) Vgl. Bernhard Schlink: Heimat als Utopie. Frankfurt/Main 2000.

13) Schwendter: Utopie. S. 63.

14) www.airpower.at/news03/0813_luftkrieg_ostmark/flaktuerme.htm