Abstracts

Peter Berz
Mimikry. Oder: Die Biologie des nicht-euklidischen Raums


Seit den Studien des Biologen Henry Walter Bates bezeichnet man mit dem Terminus Mimikry die Eigenart bestimmter Spezies, Merkmale anderer Arten zu imitieren. Einige Tier- und Pflanzenarten täuschen das Erscheinungsbild einer anderen Art vor, indem sie deren Ästhetik und Verhalten kopieren. Andere, wie das Chamäleon oder das Lebende Blatt, verschmelzen mit dem Hintergrund bzw. mit ihrer Umgebung und werden so unsichtbar – sie betreiben Mimese. Die Lebewesen scheinen ihr Beobachtet-Werden mit einzukalkulieren, Ähnlichkeit schreibt sich in die Körper ein. Im Vortrag soll anhand der Mimikry versucht werden, die Konturen einer anderen Biologie zu umreißen.


Cornelius Borck
Weltmilieu. Die Expo'67 als Vision globaler Steuerung


Kaum ein Ereignis hat sich ähnlich vorbehaltlos positiv in die kanadische Geschichte eingeschrieben wie die Weltausstellung 1967 in Montreal. Unvorhergesehene Besucheranstürme verwandelten das künstliche, am St. Lorenz-Strom errichtete Ausstellungsgelände in den Ort eines gigantischen Happenings, wo schwindelerregende Sound-, Licht- und Filminstallationen die Multimedia-Welt von morgen vorausahnen ließen. Gerade diese Expo hatte sich auf die Fahnen geschrieben, kein künstliches Paradies der industriellen Warenwelt zu schaffen, vielmehr sollte sie als ein Weltlabor fungieren im Hinblick auf Zukunftsgefahren wie Hunger, Überbevölkerung, Umweltkatastrophen und Atomtod. Im Kleinen des Exponats und des Expo-Ambiente sollte hier das Große des Weltzusammenhangs anschaulich werden, denn ihre ehrgeizigen Planungs- und Gestaltungsziele dienten als Modell globaler Machbarkeiten. Gerade die (ungeplante) Realisierung als rauschhafte Wirklichkeit erscheint dabei als präzise Veranschaulichung ihres Planungsphantasmas einer Virtualisierung der Welt.


Benjamin Bühler
Grenzmechanismen des Lebendigen. Von der Umweltlehre zur Kulturanthropologie


Ausgangspunkt des Vortrages ist der epistemische Wandel innerhalb der Biologie zwischen 1880 und 1930, in dessen Folge Organismen zunehmend in Hinsicht auf ihre Umwelt-Verhältnisse beobachtet werden: Es wird nicht mehr nach den psychischen Eigenschaften von Ameisen gefragt, sondern danach, wie sie sich unter natürlichen Bedingungen orientieren. Damit rückt seit etwa 1900 der Organismus als lebender Körper in einem von ihm selbst geschaffenen Raum, über den sämtliche Regulierungen und Steuerungsmechanismen verlaufen, in ein Blickfeld, das mit der Metapher des Kreises modelliert wird, ob als Funktions-, Lebens-, Regel-, Gestalt- oder Kulturkreis. Der Vortrag wird unterschiedlichen Konzeptionen dieses Raums anhand Jakob von Uexkülls Umweltlehre und deren Rezeption in der Philosophischen Anthropologie nachgehen. Wesentlich ist hierbei die Frage nach dem ‚Ambiente‘ des Menschen:  Während Uexküll dieses noch als eine Umwelt ansieht, werden die Philosophischen Anthropologen darin nichts anderes als die Kultur entdecken. Zumindest im Fluchtpunkt des Vortrages stehen damit auch heutige Kulturtheorien, in denen die Beziehungen zwischen System und Umwelt jedoch umgekehrt werden.


Isabel Kranz
Parlor oceans, crystal prisons: Das Aquarium als Schauraum bürgerlichen Selbstverständnisses


Mitte des 19. Jahrhunderts wurde in England das moderne Aquarium erfunden. In seinen zwei Ausprägungen als öffentliches Tiefsee- und privates Süßwasseraquarium feierten diese Vorrichtungen bald auch in Deutschland große Erfolge. Das bis dato unbekannte Leben unter Wasser zog das Interesse breiter Kreise professioneller Forscher, naturwissenschaftlich gebildeter Amateure und schaulustiger Besucher auf sich, die sich nun aus nächster Nähe mit dem aquatischen Milieu und seinen Gesetzmäßigkeiten beschäftigen konnten. Im Zentrum der Auseinandersetzung mit der neu entdeckten Unterwasserwelt stand für die Aquarienbauer und -besitzer zunächst die Schaffung eines quasi-naturhaften Habitats für die Tiere. Es galt, die lebenswichtige Balance zwischen bestimmten Fischarten sowie zwischen Fauna und Flora im Aquarium zu wahren, um so Leben im Künstlichen zu ermöglichen. Aufschlussreich sind die Diskussionen über die Fischbehältnisse jedoch nicht nur in Hinblick auf die Tiere: Stellt das Aquarium nicht geradezu ein Modell jener Stabilisierungs- und Kontrolltechniken bereit, die in Bezug auf die sozialen Milieus der Zeit zur Debatte standen bzw. bereits implementiert wurden? Und was sagen diese Salonozeane und Kristallgefängnisse über die Seh(n)süchte ihrer Besucher und Besitzer aus?


Claus Pias
Paradiesische Zustände: Tümpel, Erde, Raumstation


Gleichwohl die Geschichte der Limnologie tief ins 19. Jahrhundert zurückreicht und bereits dort stehende Gewässer als selbststabilisierende Lebensgemeinschaften oder stoffwechselartige Mikrokosmoi zu begreifen suchte, waren es die späten 1940er Jahre, die unter dem Einfluß kybernetischer Regelkreislehren und digitaler Computersimulation jene Konzepte und Medien lieferte, die es letzthin erlaubten, die Welt als Extension des Tümpels zu denken. Denn am stehenden Gewässer erweist sich die Leistungsfähigkeit einer theoretischen »systems analysis«, die sich zugleich anschickt, im praktischen "systems design" die Probleme ihrer Gegenwart in den Griff zu kriegen. Auf Weltmaßstab skaliert, verwies der Tümpel damit auf die "Grenzen des Wachstums" als Katastrophe unterschiedlicher Feedbacks und verlangte nach einer globalen Homöodynamik. An den Arbeiten Jay Forresters, der die Simulationsmodelle des Club of Rome entwickelte, wird offensichtlich, daß und wie das "Ende der Geschichte" zur Notwendigkeit postmodernen Überlebens wird. Radikalisiert werden solche Stabilitätsbegehren in den zeitgleichen Plänen der NASA zu Kolonien im Weltraum. Nur die noch einmal gemachte, vollständig künstliche und damit kontrollierbare Welt ist als eine denkbar, in der die Geschichte ausgesetzt ist und ein »Platonismus des Gemachten« (Hans Blumenberg) herrschen kann.


Drehli Robnik
Dem Unvernehmen nach. Raum-Bilder und Lebensbegriffe in Siegfried Kracauers Kino-als-Geschichtstheorie


Der Vortrag widmet sich einigen Facetten der Beziehung von Kino und Biopolitik aus theoretischen Perspektiven (und in Raum-Denk-Bildern), die Siegfried Kracauer vorgelegt hat. Zum einen betrachtet Kracauer die Modulierung der sinnlichen Wahrnehmung durch das Kino in Strukturanalogie zur Alltagsformung in kapitalistisch rationalisierten Arbeitsprozessen. Er tut dies lange bevor diese Sichtweise unter dem Titel "Kulturindustrie" kanonisch und eindimensional wird; und er tut es eben so, dass die kulturell und ökonomisch forcierte, biopolitische Entblößung und Bewirtschaftung von (sozialen und leiblichen) Massen auch ein utopisches Moment hervortreibt. Das Utopische eines durchs Kino vermittelten Auszugs aus Subjektformen von Individualität wie auch von Allgemeingültigkeit, bis hin zur Emphase des "Lebensflusses" in Kracauers Spätschriften, findet sich bei heutigen messianischen Theoretikern wieder, die den Begriff der Biopolitik "ethisch aufladen. In Abgrenzung von solchen Denkfiguren, die Politik über Offenbarungen von schierem oder bloßem Leben verstehen, wäre, noch einmal mit Kracauer (und entlang von Adornos und Schlüpmanns Kracauer-Lektüren), ungefähr dieses zu skizzieren: ein Zusammenhang von Kino, Geschichtlichkeit und Leben, bei dem letzteres ­ etwa das "unkenntliche Leben der Dinge" ­ Brüche im Fluss, Raum- und Zeit-Figuren des Nicht-Passens, konfliktöse Zugehörigkeiten und jederzeitige Kippbarkeit von (Ohn)Machtverhältnissen meint. Es geht dann nicht um vernehmlich werdendes, sondern um unvernehmliches Leben und um Kino als Theorie, die es diagnostiziert.


Simon Roloff
Das Ornament der Klasse. Diagramme in Literatur und Pädagogik um 1900


In Robert Walsers Roman Jakob von Gunten richtet sich das pädagogische Programm des ominösen "Instituts Benjamenta" auf Schüler als Formen des Lebens in einer Abrichtung ihres Verhaltens. Dabei wird keine Ausbildung des Einzelnen zu vermehrten Fähigkeiten und Kenntnissen verfolgt, sondern die Anordnung der Körper der Klasse zu physiognomischen und ornamentalen Linien, zu einer "Zeichnung, die als einziger Beweis der Vorschriften am Institut dient." Man kann in dieser nur als Zeichnung begründbaren Walserschen Institution ein Spiel informeller Kräfte ausmachen, ein Diagramm in dem bei Deleuze die Kontrollmacht ihren Zugriff auf das Leben organisiert. Und es lässt sich dieses Diagramm nicht nur auf Walsers Poetologie des Romans beziehen, sondern auf die später von ihm erlernte Schulanfängerschrift Sütterlin, deren ornamentale Formen Schülerkörper zu dezidiert nicht-organischen Bewegungen anreizen sollte und die darin einem pädagogischen Konzept folgt, in dem seit Wilhelm Preyer lebendig sich entwickelnde Formen nur noch als Maschinen eines pädagogischen Verbunds gedacht werden können. Der Roman wird so in der Literatur um 1900 zur poetologischen Form eines nicht-organischen Lebens, das von einer Pädagogik und einer Schreibtechnik hervorgebracht wird.


Holger Schulze
Klang aus der Nähe. Zur Handlungs- und Erkenntnistheorie des Domestischen


Nähe ist ein schwieriger Erkenntnisgegenstand. Die Umgebung, in der wir uns die meiste Zeit aufhalten, das Häusliche oder Domestische, es scheint ein zu niedriger Gegenstand zu sein. Zu unspektakulär unsere Zimmer und kleinen Orte, zu ruhmlos unsere Arbeitsplätze, Sitzgelegenheiten, Lagerstätten. Klänge, Gerüche, Empfindungen, die uns unaufhörlich umgeben.
Über Fernes und Großes zu sprechen dagegen, das erhaben Monumentalisierte der Archive: das fällt uns leicht. Erleichtert es uns doch, abzusehen von uns. Riecht und klingt es doch einerlei (ein Trugschluss). Dem Nahen aber, den nahen Klängen und Düften und Empfindungen, ihnen fehlt die öffentliche Sprache, eine, die nicht klischiert wäre; die nicht wiederum vor dem Nahen ausweichte in ferngerückte Formeln und Phrasen der Intimität - ohne Empfindung und Gespür.
Dieser Vortrag will versuchen, den Näheraum eines häuslichen, persönlichen Lebens als intimen Sinnesraum zu erkunden - vor allem anhand seiner Düfte und Klänge und Empfindungen. Um zu beschreiben und Worte zu finden: Wie können wir das Leben der Empfindungen aus nächster Nähe um uns herum begreifen? Wie handeln wir in den nächsten Spür, Greif- und Empfindungsräumen, in Klang- und Dufträumen um uns herum? Ein Lob des Domestischen.


Katrin Solhdju
Interesse als Wissensstrategie. Ein Blick auf ethologische Praktiken


Ein Biosoziologe sieht nicht das gleiche wie ein Behaviorist sieht nicht das gleiche wie ein Ethologe, auch wenn sie dieselben Menschen oder Tiere beobachten. Sehen sie schlicht etwas anderes, weil sich unterschiedliche Perspektiven einnehmen, verschiedene Fragen stellen und alles, was nicht in direkten Zusammenhang damit steht, ausblenden? Oder kreieren sie je so spezifische Situationen, dass die Forschungsobjekte sich dem einen als langweilig, dem anderen als höchstinteressant zu sehen geben? Vielleicht werden Menschen, Tiere und andere lebendige Wesen interessanter, wenn ein adäquates Ambiente es ihnen ermöglicht, eigene Interessen zu artikulieren. Was aber hat die Kategorie des Interesses auf Seiten der Objekte im Kontext ihrer wissenschaftlichen Erforschung zu suchen? Das wird deutlich, wenn man Inter-esse wörtlich als dasjenige versteht, das Dazwischen ist, das also Nähe oder Distanz zweier Dinge zueinander angibt und zugleich allererst ihren Austausch ermöglicht. Anhand einiger Beispiele aus der Ethologie soll mein Beitrag verdeutlichen, was unter interessiertem Experimentieren mit im Gegensatz zu Experimentieren an den Dingen gemeint sein könnte, und danach fragen, wie eine Konzeption des Wissens aussehen würde, die solchen interessegeleiteten Praktiken adäquat wäre.


Christina Vagt
Im Stadion. Heideggers Medien der Topologie


1950 findet im Stuttgarter Neckarstadion das erste Länderspiel einer deutschen Fußballnationalmannschaft nach dem Zweiten Weltkrieg statt. Auf den Rängen kommt es zu Ausschreitungen, es gibt Hunderte von Verletzten. Auf dem Platz gewinnt Deutschland gegen die Schweiz mit 1:0. Heidegger wird im Jahr darauf ordentlich emeritiert und darf wieder lehren. Die Menschen heißen jetzt die „Sterblichen“. Vom Leben lässt sich nur noch im Stadium der Vergessenheit sprechen, denn wo der Mensch Lebewesen genannt wird, ist er nach Heidegger bloß vorhanden und berechenbar. Das „Leben“ liegt jetzt ganz und gar im Gegenstandsbezirk von Statistik und Logistik.
Heidegger entwirft angesichts ausgezeichneter Orte oder vielmehr Dinge, die Orte ,einräumen’ und Räume ,stiften’, eine Topologie des Seins. Dem Leben, das nur noch als Masse und als Objekt quantifizierender Wissenspolitiken gehandelt wird, hält er eine Theorie und Praxis des ,Wohnens’ entgegen, die selbst in der tiefsten Depression einen Aufenthalt, ein Wohnen bei den Dingen garantieren soll. Der Weg dorthin führt nicht durch Hütte und Haus, sondern durch die umgebende Landschaft, vorbei an Brücken und Stadien, Kraftwerken und Flugplätzen, jenen Behausungen, die für Heidegger das Verhältnis zwischen Mensch und Raum architektonisch formulieren und den „Aufenthalt des Menschen behausen“. Im Stadion trifft die Logistik der Zuschauer-Masse auf die Topologie des Fußballspiels, das zwar eng umrissen ist, sich als Ereignisraum aber erst in der Bewegung zwischen Spielern und Ball konfiguriert. Gestell und Ereignisdenken teilen hier einen Ort, der zu den ,anderen’ Räumen Foucaults gezählt werden kann, allerdings als vom Medium her gedachter und historisierter Zwischenraum, der sowohl vom Buchdruck wie von antiken Spielen zeugt.